Geschichte

Geschichte

Einleitung

Man kann die bisherige gut zweihundertjährige Geschichte der Homöopathie bequem in etwa gleich große Teile vierteln:

  1. Im ersten Viertel (ca. 1800–1850) wird die Homöopathie durch Samuel Hahnemann (1755–1843) begründet und geprägt. Es erfolgt eine erste Ausbreitungswelle, unter anderem nach Nordamerika.
  2. Im zweiten Viertel (ca. 1850–1900) kommt es zu einer Blütephase in Nordamerika, wohingegen die Homöopathie in Deutschland hauptsächlich von Nichtärzten fortgeführt wird.
  3. Im dritten Viertel (ca. 1900–1950) muss die Homöopathie weltweit ums Überleben kämpfen. In Deutschland dominiert die naturwissenschaftlich-kritische Richtung.
  4. Im letzten Viertel (ca. 1950 bis heute) verbreiten Schweizer Homöopathen die Klassische Homöopathie in Europa. Seit den 1970er-Jahren boomt die Homöopathie in allen Weltteilen bis auf Afrika.

Das erste Viertel: Samuel Hahnemann

Die Geschichte der Homöopathie beginnt mit Christian Friedrich Samuel Hahnemann (1755–1843). Seine Biographie bietet alles, was für einen Hollywoodfilm reichen würde: Der Weg vom Sohn eines armen sächsischen Porzellanmalers zum Modearzt in Paris wird bestimmt von Niederlagen und Erfolgen, Verehrung und Anfeindung, Streit und Versöhnung und zu guter Letzt sogar noch von einem Schuss Erotik. Aber Hahnemanns Biographie bietet noch mehr. Sie bietet Tiefgang. Es geht in seinem Leben um nicht weniger als um die Suche nach der vollkommenen Heilkunst – nicht nur zur Sicherung der eigenen Existenz, sondern auch zum Wohle der Kranken. Man kann vieles gegen Hahnemann und seine Homöopathie einwenden. Fest steht jedoch, dass kaum einer seiner Zeitgenossen sein Leben lang so sehr um die richtige Therapie gerungen hat wie er.

In Hahnemanns Biographie kristallisieren sich bereits die wesentlichen Eckpunkte der weiteren Geschichte der Homöopathie heraus. Immer wieder wird es zu Auseinandersetzungen kommen, sowohl innerhalb der Homöopathie als auch zwischen Homöopathie und anderen medizinischen Verfahren. Es ging von Anfang an alles andere als friedlich zu. Dies ist ein typisches Paradox der Homöopathie: Eine Heilkunst, die so sanft ist, und in der es so sehr um die Harmonie zwischen Körper, Geist und Seele geht, ruft gleichzeitig so erbitterte Kämpfe hervor – innerhalb und außerhalb der Homöopathie.

Frühzeit und Wanderjahre

Samuel Hahnemann wurde 1755 in Meißen als Sohn eines Porzellanmalers der berühmten Manufaktur geboren. Seine große Begabung fiel frühzeitig auf, sodass er trotz fehlender finanzieller Mittel des Elternhauses die höhere Schule besuchen und schließlich Medizin studieren konnte. 1775 wird Hahnemann in Leipzig an der medizinischen Fakultät immatri­kuliert. Schon bald beginnt er, nicht zuletzt aus finanzieller Not, mit der Über­setzung ausländischer Werke zu Chemie und Medizin ins Deutsche. In den nächsten drei Jahrzehnten wird er beinahe 12 000 Seiten übersetzen und zum Teil auch kritisch kommentieren.

Das Studium in Leipzig enttäuscht Hahnemann jedoch. Fast gar keine Praxis, stattdessen trockene Theorie und – wortwörtlich – Vorlesungen, so wie es damals beinahe überall üblich war. Hahnemann entschließt sich 1777, sein Studium in Wien unter der Leitung Joseph von Quarins fortzusetzen, weil dort nicht nur Theorie gelehrt wird, sondern auch Praxis am Krankenbett. Nach weiteren Umwegen beendet Hahnemann 1779 sein Medizinstudium in Erlangen und promoviert dort.

Es folgen rund dreißig unstete Wanderjahre, in denen Hahnemann mit seiner stetig anwachsen­den Familie an über 20 Orten anzutreffen ist, zumeist in Sachsen, Niedersachen und Altona. Zunächst lässt sich Hahnemann als 25-jähriger Arzt in Hettstedt nieder, zieht aber schon im nächsten Jahr nach Dessau. Dort schließt er sich dem Apotheker Joachim Heinrich Häseler an, in dessen Apotheke er chemische Studien durchführt. 1782, Hahnemann lebt bereits im nahen Gommern, heiratet er Henriette Küchler (1764–1830), die Stieftochter des Dessauer Apothekers Häseler. Die Wanderjahre werden dennoch fortgesetzt. Das Paar bekommt elf Kinder, von denen ein Mädchen tot geboren wird und ein Sohn im ersten Lebensjahr verstirbt.

Die Familie lebt in dieser rastlosen Zeit weniger von Hahnemanns ärztlichem Einkommen als von der Mitgift seiner Frau und von seinen Honoraren als Übersetzer und Verfasser eigener Veröffentlichungen. Seine zahlreichen Publikationen in angesehenen Fachzeitschriften sind von hoher Qualität und werden zum Teil in andere Sprachen übersetzt. Besonders sein zwischen 1793 und 1799 in vier Bänden veröffentlichtes Apothekerlexikon macht ihn in Fachkreisen bekannt, obwohl von einem Nichtapotheker verfasst. Hahnemanns ärztliche Tätigkeit tritt in dieser Phase in den Hintergrund, nicht zuletzt, weil er enttäuscht über die medizinischen Möglichkeiten seiner Zeit ist. Streitigkeiten mit ortsansässigen Kollegen und Apothekern mögen ihr Übriges dazu beigetragen haben, dass die Familie immer weiter zieht.

In die Zeit der Wanderjahre fällt auch die Begründung der Homöopathie, allerdings nicht mit einem Paukenschlag, sondern langsam und vorsichtig tastend. 1790 übersetzt Hahnemann im Leipziger Vorort Stötteritz die Abhandlung über die Materia medica von William Cullen und führt den berühmten Chinarindenversuch durch. Es dauert jedoch noch einige Jahre, bis er die Homöopathie als komplexes Therapiesystem begründet hat.

In der folgenden Zeit ändert sich daher vorerst nichts. Hahnemann übersetzt und forscht, die Homöopathie spielt in der Praxis noch keine Rolle. Erst sechs Jahre später, 1796, veröffentlicht Hahnemann einen ersten Aufsatz, in dem er besonnen seine homöopathischen Gedanken vorstellt. 1796 gilt demnach zu Recht als Geburtsjahr der Homöopathie. Es spricht für Hahnemanns guten Ruf, dass dieser Aufsatz in der damals führenden deutschsprachigen Fachzeitschrift erscheint, in Hufelands Journal, herausgegeben von Christoph Wilhelm Hufeland (1762–1836), einem der bedeutendsten Ärzte dieser Zeit. Weitere Aufsätze zur Homöopathie folgen. Die homöopathische Praxis nimmt Hahnemann jedoch erst um 1800 auf.

Am Ende der Wanderjahre lebt Hahnemann von 1805 bis 1811 in Torgau. In diesem vergleichsweise langen Zeitraum erscheinen drei seiner wichtigsten Schriften: Die erste Arzneimittellehre (noch lateinisch), die Heilkunde der Erfahrung (eine Vorläuferschrift des Organons) und schließlich 1810 die erste Auflage seine Hauptwerkes unter dem Titel Organon der rationellen Heilkunde, das in den folgenden Jahrzehnten in laufend überarbeiteten Aufla­gen erscheinen wird.

Die Resonanz in Ärzteschaft und Öffentlichkeit ist jedoch minimal. Hahnemann ist mittlerweile 46 Jahre alt und noch immer der einzige, der homöopathisch praktiziert. Sollte ihm etwas zustoßen, wäre die Homöopathie verloren. Niemand kann ahnen, dass er noch über dreißig Jahre leben wird. Hahnemann braucht deswegen dringend Anhänger, Nachfolger, Schüler. Es liegt also nahe, in die benachbarte Universitäts- und Messestadt Leipzig zu ziehen.

Leipzig

Als Hahnemann sich 1811 in Leipzig niederlässt, ist die Homöopathie nahezu unbekannt. Als er zehn Jahre später in Richtung Köthen abreist, hat sich das Bild gewandelt: Die Homöopathie ist nicht nur bekannt, sondern beinahe populär, mit berühmten Fürsprechern und Hunderten von Anhängern als Multiplikato­ren. Es gibt zudem eine kleine Schülerschar, die sich um Hahnemann versam­melt hat, und im gesamten deutschsprachigen Raum homöopathisch praktizierende Ärzte, die die Lehre weiter verbreiten. Was ist geschehen?

Hahnemann gelingt es, sich an der Leipziger Universität zu habilitieren. Seine Vorlesungen stehen in dem Ruf, kurios zu sein. Die meisten Zuhörer kommen, um sich an Hahnemanns Wutausbrüchen gegenüber der restlichen Medizin zu ergötzen. Ein paar kommen allerdings auch wegen der Homöopathie. Im Lauf der Jahre bleiben etwa zwanzig Schüler übrig, die Hahnemann mehr oder weniger treu ergeben sind. Diese Schülerschaft ist zwar klein, aber sie hilft der Homöopathie zu überleben.

Aber nicht nur Hahnemanns Schüler helfen der Homöopathie. Auch seine Werke, sein Charisma und seine Heilerfolge spielen eine große Rolle bei der Ausbreitung der Homöopathie. Gerade die mit der damaligen Medizin unzufriedenen Patienten aus den oberen Schichten versuchen es mit der neuen Heilmethode und sind oftmals begeistert. Der Einfluss mächtiger und wohlhabender Patienten ist daher nicht zu unterschätzen. Und zu guter Letzt tragen auch die Kritiker Hahnemanns, die sich mit zunehmender Verbreitung der Homöopathie immer öfter zu Wort melden, ihren Teil dazu bei, dass diese immer bekannter wird.

Köthen

Dennoch verlässt Hahnemann nach rund zehn Jahren Leipzig, um 1821 ins nahe gelegene Köthen zu ziehen, das von Herzog Ferdinand von Anhalt-Köthen, einem Patienten Hahnemanns, regiert wird. Die Zeit in Leipzig und die darauf folgende Zeit in Köthen sind sehr unterschiedlich. Die Leipziger Zeit war geprägt durch das akademische Umfeld. Hahnemann und seine Schüler prüften viele der noch heute täglich verwendeten Arzneimittel. Es ging also vor allem um die gemeinsame Bereitstellung der homöopathischen Handwerkszeuge. Die Köthener Zeit hingegen ist geprägt durch Einsamkeit: Hahnemann arbeitet fast vollkommen alleine vor sich hin. Ihm geht es jetzt vor allem um die Anwendung der Arzneimittel. In dieser Phase entsteht ein Großteil dessen, was noch heute als gute homöopathische Praxis Gültigkeit besitzt.

Hahnemanns neu aufgenommene Köthener Praxis floriert nach einiger Zeit wieder. Gründe da­für sind wiederum Hahnemanns Heilerfolge sowie seine einflussreiche Stelle als Leibarzt des Herzogs, später auch als Hofrat. Aber auch eine Krankheit trägt zur Verbrei­tung der Homöopathie bei, die Cholera-Epidemie von 1831/32. Diese Epide­mie kostet unzähligen Menschen nicht nur in Deutschland das Leben. Die übli­che Behandlung besteht unter anderem auch darin, den ohnehin schon geschwächten Kranken zusätzlich ausgiebig schwitzen oder ihn sogar zur Ader zu lassen. Hahnemann empfiehlt, obwohl Köthen von der Cholera verschont bleibt, auf Grund von Berichten seiner Schüler einige homöopathi­sche Arzneien und ergänzende Maßnahmen. Die Erfolge dieser Behandlung sind eindrucksvoll. Es ist viel darüber spekuliert worden, was den Erfolg der Homöopathie ausgemacht hat. Waren es die Arzneien? Oder verdankten die Kranken dem Homöopathen ihr Leben, weil er sie nicht zur Ader ließ? Fest steht, dass die Homöopathie durch die Cholera-Epidemie so sehr an Popularität gewinnt, dass immer mehr ausländische Patienten auf Hahnemann aufmerksam werden und den langen Weg nach Köthen antreten.

Hahnemanns wichtigste Arbeiten – die Chronischen Krankheiten und die dritte bis fünfte Organon-Auflage – befassen sich in dieser Zeit mit Ursache und Behandlung chronischer Erkrankungen. Allerdings werden viele der jetzt von Hahnemann gelehrten Anschauun­gen nicht mehr von allen homöopathischen Ärzten nachvollzogen. Nicht nur seine Ansichten über Ursprung, Verlauf und Behandlung chronischer Krankheiten (bekannt geworden als Psora-Theorie), sondern auch die immer höheren Potenzierungen, die Hahnemann empfiehlt, fordern Widerspruch heraus. Es kommt sogar zu heftigen, öffentlich ausgetragenen Streitereien innerhalb der Homöopathenschaft, an deren unsachlichem Ton Hahnemann nicht ganz unschuldig ist. Die wenigen noch treu ergebenen Schüler leben außerdem weit entfernt, sodass ein regelmäßiger Kontakt fast nur noch schriftlich möglich ist.

Auch sonst ist die Zeit in Köthen für Hahnemann eine Zeit großer Isolation, nicht nur in persönlicher, sondern auch in wissenschaftlicher Hinsicht. Die aktuellen Entwicklungen der Medizin nimmt er kaum noch wahr, selbst Fachzeitschriften liest er keine mehr. Unermüdlich kümmert er sich aus­schließlich um die Ausarbeitung der Homöopathie und feilt verbissen-einsiedlerisch an ihrer Weiterentwicklung. Besonders einsam wird es um Hahnemann, als seine Ehefrau im Mai 1830 verstirbt.

Aber dann kommt alles noch einmal ganz anders: Am 7. Oktober 1834 trifft ein eleganter junger Herr aus der Weltstadt Paris im biederen Köthen ein. Die filmreife Wendung nimmt ihren Verlauf. Am nächsten Tag entpuppt sich der Mann als die 34-jährige Mélanie d´Hervilly, eine Malerin und Dichterin aus einem der ältesten Adelsgeschlechter Frankreichs. Mélanie erbittet unverzüglich Hahnemanns ärztliche Hilfe. Nun überstürzen sich die Ereignisse. Der 79-Jährige macht ihr schon drei Tage später einen Heiratsantrag, den Mélanie erfreut annimmt. Am 18. Januar 1835 wird unter den kritischen Augen der Köthener Gesellschaft Hochzeit gefeiert. Nur fünf Monate später, am 7. Juni, auf den Tag genau 14 Jahre nach Hahnemanns Ankunft in Köthen, reist das ungleiche Paar nach Paris ab.

Paris

Paris ist in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die wohl bedeutendste Metropole des gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Lebens der westlichen Welt. Hahnemann nutzt die einmalige Chance, die Homöopathie in Paris zu etablieren, indem er sich entgegen seiner ursprünglichen Planung nicht zur Ruhe setzt, sondern weiterhin tatkräftig praktiziert. Schon bald blüht seine Praxis wieder wie zu besten Köthener Zeiten, was auch damit zusammenhängt, dass ihm seine junge Gattin dynamisch zu Seite steht.

Hahnemann wird viel besuchter Modearzt, frequentiert besonders von der oberen Pariser Schicht sowie englischen und schottischen Touristen, die sich auf Europareise befinden. Einige dieser Patienten werden in ihren Heimat­ländern zu wichtigen Wegbereitern der Homöopathie.

Der mondäne Glanz, der auf Hahnemanns Praxis ruht, bricht auch im Privatleben durch. Anders als in Köthen zieht sich Hahnemann nach arbeitsreichen Tagen nicht zurück, sondern besucht an der Seite Mélanies Theater, Konzerte und Gesellschaften. „An schönen Sommerabenden ging er zu Fuß vom Arc de Triomphe nach Hause und kehrte unterwegs bei Tortoni ein, um ein Eis zu essen.“ Dieser, wenn auch vielleicht etwas idealisierte Satz eines Zeitgenossen, verdeutlicht die gelöste Atmosphäre der letzten Jahre sehr schön.

Hahnemann veröffentlicht in Paris noch die letzten drei Bände der zweiten Auflage der Chronischen Krankheiten und bereitet die letzte Ausgabe des Organons vor, die jedoch posthum erst 1921 herausgegeben wird. Von darin enthaltenen homöopathischen Neuerungen sind vor allem die Q-Potenzen zu nennen.

Am frühen Morgen des 2. Juli 1843 stirbt Hahnemann nach zehnwöchiger Krankheit an den Folgen eines Bronchialkatarrhs.

Das zweite Viertel: Blütephase in Amerika

Das nächste Viertel der Homöopathiegeschichte hat zwei Seiten: eine quicklebendige in Nordamerika und eine etwas tristere im deutschsprachigen Raum.

Tristheit im deutschsprachigen Raum

In Deutschland stirbt die erste Generation der Homöopathen langsam aus. Nachfolger gibt es nur wenige. An Hahnemanns Lehren hält sich kaum noch einer. Die meisten Homöopathen praktizieren die Homöopathie so, wie es Hahnemann zu Beginn seiner homöopathischen Schaffenszeit vorgemacht hat, also mit Tiefpotenzen und relativ häufigen Wiederholungen. In der Regel werden auch keine chronischen Krankheiten behandelt, sondern akute. Hahnemanns Psoratheorie gerät vollständig in Vergessenheit: Es ist, als hätten die Generationen nach Hahnemann erst einmal wieder von vorne beginnen müssen.

Dennoch stirbt die Homöopathie nicht aus, sondern gewinnt mehr und mehr Anhänger. Dies liegt jedoch nur zu einem geringen Teil an den homöopathischen Ärzten und ihren Heilerfolgen. Für das Überleben der Homöopathie und ihre Ausbreitung sorgen fast ausschließlich Nichtärzte. Die Homöopathie wird beispielsweise bei vielen Pastoren auf dem Lande beliebt, die in Ermangelung eines Arztes damit ihren Gemeindemitgliedern helfen können. Auch viele Gutsbesitzer wenden die neue Heilmethode bei ihren Knechten (und Tieren) an. Gleichzeitig entstehen viele Laienvereine, die sich der Homöopathie verschreiben.

Ein Name ist besonders wichtig: Willmar Schwabe (1839–1917). Schwabe ist Apotheker und von der Homöopathie so begeistert, dass er sich auf die industrielle Herstellung homöopathischer Arzneien spezialisiert. Seine in den 1860er-Jahren gegründete Firma wird bald zum weltweiten Marktführer. Inzwischen ist Schwabes Firma in der Deutschen-Homöopathie-Union (DHU) aufgegangen.

Die von Schwabe industriell hergestellten Arzneien sind von hervorragender Qualität und fast überall erhältlich. Deswegen vertraut man ihnen. Aber Schwabes Erfolg – und damit auch Überleben und Ausbreitung der Homöopathie – beruht nicht nur auf den Arzneimitteln, sondern auch auf seinem zweiten Standbein, seiner verlegerischen Tätigkeit. Schwabe gründet schon sehr früh eine „Homöopathische Verlags- und Sortimentsbuchhandlung“, die er an seine Apotheke angliedert. Buchdruckerei und Buchbinderei kommen später hinzu. Er nutzt sein riesiges Sortiment an Fachbüchern und Laienliteratur, um die Homöopathie noch populärer zu machen und gleichzeitig für seine Arzneien und Hausapotheken zu werben. Schwabes Bedeutung für den deutschsprachigen Raum ist so groß, dass man sich zu Recht gefragt hat, wer denn hier eigentlich wen bedingt: Hat das Interesse der Laien an der Homöopathie den Erfolg Schwabes ermöglicht oder haben Schwabes unternehmerisches Geschick und seine Liebe zur Homöopathie das Interesse der Laien über diesen langen Zeitraum hinweg aufrecht erhalten?

Quicklebendig in Nordamerika

Trotzdem: Die Homöopathie hatte es in diesem Zeitraum in Deutschland und seinen Nachbarstaaten schwer. Ganz anders ist die Situation in Nordamerika. Dort erblüht die Homöopathie vorübergehend zu einer festen Größe auf dem Gesundheitsmarkt mit eigenen Colleges und einer reichhaltigen und bis heute lesenswerten Zeitschriftenkultur. Im Zuge der ersten Ausbreitungswelle war die Homöopathie von Europa aus nach Amerika gelangt. Constantin Hering (1800-1880), nach dem die Hering’sche Regel benannt wurde, spielt dabei eine maßgebliche Rolle. Weitere bedeutende Homöopathen, deren Bücher bis heute zum festen Ausbildungsrepertoire gehören, sind Adolph Lippe (1812–1888), Carroll Dunham (1828–1877), Timothy F. Allen (1837–1902), Henry C. Allen (1836–1909), Ernest A. Farrington (1847–1885) und James Tyler Kent (1849–1916).

James Tyler Kent ist für die Entwicklung der Homöopathie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht nur in Amerika, sondern auch weltweit von ausschlaggebender Bedeutung. Kent kommt durch die Erkrankung seiner zweiten Ehefrau 1881 zur Homöopathie. Schnell gewinnt er als erfolgreicher Praktiker und charismatischer Lehrer einen großen Ruf. Seine drei Hauptwerke sind bis heute neben Hahnemanns Schriften für viele Homöopathen maßgebliche Arbeiten. Kents Arzneimittellehre (1905) ist eine von ihm korrigierte Vorlesungsmitschrift, in der die einzelnen Arzneien prägnant ein charakteristisches Gesicht erhalten. Seine Lectures on Homoeopathic Philosophy (1900) sind ebenfalls eine Vorlesungsmitschrift. Dieses Grundlagenwerk ist an Hahnemanns Organon der 5. Auflage orientiert, da das Manuskript zur sechsten Auflage (mit den darin beschriebenen Q-Potenzen) noch nicht veröffentlicht war. Kents wichtigstes Werk ist jedoch sein Repertorium, das erstmals 1897–99 erscheint.

Die amerikanische Art der Homöopathie ist eng an Hahnemann angelehnt (genauer gesagt: eng an Hahnemanns Köthener Zeit). Es werden überwiegend hohe Potenzen in seltener Wiederholung verabreicht. Außerdem werden nicht nur akute Krankheiten homöopathisch behandelt, sondern auch chronische.

Das dritte Viertel: Kampf ums Überleben

Die Zeit zwischen etwa 1900 und 1950 ist auch für die Homöopathie eine finstere Zeit. Gegen Ende des zweiten Weltkrieges muss sogar die 1832 gegründete Allgemeine Homöopathische Zeitung (AHZ) ihr Erscheinen vorübergehend einstellen. Die AHZ war und ist das Standesorgan der Homöopathen. Inzwischen ist sie die älteste medizinische Fachzeitschrift der Welt. Ihr Nichterscheinen zwischen 1944 und 1948 ist symbolisch für die Stellung der Homöopathie am Ende des zweiten Weltkrieges und zu Beginn der Nachkriegszeit.

Zu Beginn des Jahrhunderts dominierte in Deutschland eine Richtung, die unter dem Namen „naturwissenschaftlich-kritische Homöopathie“ bekannt geworden ist. Anhänger dieser Richtung verordnen ausschließlich Tiefpotenzen, meist nur D2, D4 oder D6. Die Arzneimittelwahl erfolgt nicht anhand der individuellen Symptomatik, sondern anhand organotroper Zuordnungen. Man spricht von Leber- oder Nierenmitteln, die in häufiger Wiederholung dem Leber- oder Nierenkranken verordnet werden. Mit Hahnemanns Art der Homöopathie hat das alles nur noch wenig zu tun. Auch die amerikanische Art der Homöopathie ist noch nicht über den Teich zurückgeschwappt.

Während der nationalsozialistischen Herrschaft zwischen 1933 und 1945 kommt es zu einem kurzen Aufschwung der Homöopathie, später dann aber zu einem fast vollständigen Niedergang. Die Nationalsozialisten zeigen zunächst großes Interesse an der Homöopathie. Durch ihre staatliche Protegierung ist die Stellung der Homöopathie so gesichert wie selten zuvor. Viele Homöopathen bringen ihrerseits dem Nationalsozialismus Interesse entgegen. Sie versprechen sich von der nationalsozialistischen Regierung genau das, was ihnen bislang weitgehend verwehrt geblieben war: Anerkennung und Gleichberechtigung. Trotz gegenseitigen Interesses vermag es die Homöopathie am Ende jedoch nicht, aus ihrer Außenseiterstellung herauszutreten. Die Gründe dafür sind vielfältig. Unter anderem tragen auch unbefriedigende Ergebnisse staatlich geförderter Untersuchungen dazu bei, dass der Homöopathie die erhoffte Anerkennung untersagt bleibt. Die Ermordung oder Vertreibung jüdischer Homöopathen schwächt die Homöopathie zusätzlich.

Auch in Nordamerika sieht es nicht mehr so rosig aus wie im letzen Viertel. Mit der Jahrhundertwende setzt der Niedergang der Homöopathie in den USA ein. Über seine Gründe ist viel spekuliert worden, und ganz genau weiß man noch immer nicht, wie es dazu gekommen ist.

Ein wichtiger Grund ist sicherlich, dass der Standard medizinischer Ausbildung deutlich erhöht wird. Infolgedessen müssen viele homöopathische Colleges ihre Pforten schließen, die diesem Standard nicht genügten. Parallel damit geht auch die Zahl ausgebildeter Homöopathen zurück. Überhaupt sieht es so aus, als hätten die meisten so genannten homöopathischen Colleges qualitativ minderwertig ausgebildet, sodass die meisten Absolventen von Hahnemanns Homöopathie nur einen blassen Schimmer hatten. Weitere Gründe für den Untergang sind das erhöhte Ansehen der naturwissenschaftlich orientierten konventionellen Medizin, die Streitereien innerhalb der Homöopathenschaft, die zunehmenden Werbekampagnen der pharmazeutischen Industrie gegen Außenseiterverfahren und nicht zuletzt fehlende Gelder. So zieht z.B. die Rockefeller-Stiftung ihr Geld aus den homöopathischen Colleges zurück. Alle diese Gründe tragen dazu bei, dass die Homöopathie ihre gute Position in den USA wieder aufgeben muss und in der Bedeutungslosigkeit verschwindet. Diese Entwicklung ist anders als in Deutschland: Hier wird die Homöopathie zwar niemals vergleichsweise wichtig, sie geht aber auch niemals vollständig unter.

Das vierte Viertel: Weltweiter Aufschwung

Seit 1950, besonders aber seit den 1970er- und 1980er-Jahren kommt es zu einem weltweiten Aufschwung der Homöopathie, der sich über alle Erdteile bis auf Afrika erstreckt. Dieser Aufschwung kommt alles andere als erwartet, denn nach dem zweiten Weltkrieg sah es in weiten Teilen der Welt eher danach aus, als würde die Homöopathie endgültig aussterben.

Deutschsprachiger Raum

Im deutschsprachigen Raum lässt sich dieses letzte Viertel Homöopathiegeschichte in drei Phasen zergliedern.

In der ersten Phase sorgt die naturwissenschaftlich-kritische Richtung dafür, dass die Homöopathie überhaupt weiter existiert. Das Robert-Bosch-Krankenhaus in Stuttgart wird zum Mekka einer neuen Generation homöopathischer Ärzte. Unter der Leitung von Otto Leeser (1888–1964) werden dort mehrere hundert Ärzte in Theorie und Praxis der Homöopathie ausgebildet. Der jüdische Arzt Leeser muss während des „Dritten Reiches“ nach England emigrieren. Erst 1949 kehrt er nach Deutschland zurück, um die ärztliche Leitung des Robert-Bosch-Krankenhauses zu übernehmen, die er jedoch schon 1955 wegen Querelen mit den Verantwortlichen des Krankenhauses wieder abgibt. Die letzten Jahre seines Lebens verbringt er in England.

In der zweiten Phase, die Ende der 1950er-Jahre beginnt, sorgen Schweizer Homöopathen für einen Klimawandel in der Homöopathie. Einflussreiche Wegbereiter sind Adolf Voegeli (1898–1993), Pierre Schmidt (1894–1987) und Jost Künzli von Fimmelsberg (1915–1992).

Adolf Voegeli veröffentlicht 1955 die Heilkunst in neuer Sicht. Dieses Buch ist der Zündfunke für die Wiederentdeckung Hahnemanns, genauer gesagt für die Wiederentdeckung von Hahnemanns Spätwerk. Selbstbewusst wie sein Titel ist auch sein Inhalt: Voegeli lehrt die prinzipielle Andersartigkeit und Unvereinbarkeit von Homöopathie und konventioneller Medizin. Er vertritt unter anderem die dynamistischen Vorstellungen des späten Hahnemann, sein Konzept der chronischen Krankheiten und die Gabe von Hochpotenzen.

Pierre Schmidt gilt vielen als der Wegbereiter der Kent’schen Homöopathie in Europa. Von Schmidt und besonders von seinem Schüler Künzli lernen die deutschsprachigen Homöopathen den Umgang mit dem Kent’schen Repertorium und überhaupt die nordamerikanische Art der Homöopathie kennen. Hahnemanns Homöopathie gelangt also über Nordamerika zurück nach Europa. Auf diesem Weg wurde sie zwar modifiziert, sodass sie nicht mehr nur Hahnemanns Ideen widerspiegelt – insgesamt aber hat diese Art der Homöopathie eine deutlich größere Nähe zu Hahnemanns ursprünglichen Vorstellungen als die naturwissenschaftlich-kritische Richtung. Daher wird sie auch als Klassische Homöopathie bezeichnet.

In der dritten Phase werden die Entwicklungen im deutschsprachigen Raum von einem globalen Boom mitgerissen.

Globaler Boom

Seit etwa Mitte der 1970er-Jahre interessieren sich deutlich mehr Ärzte, Laien und Laienbehandler in vielen Teilen der Welt für die Homöopathie und wenden sie an. Es entstehen Praxen, Fortbildungskurse, Schulen und Forschungseinrichtungen. Anfang der 1980er-Jahre greift dieser Boom auch auf Deutschland über.

Hinter dieser Entwicklung steckt zum einen das seit den 1960er-Jahren gewachsene ökologische Bewusstsein vieler Menschen, in dessen Folge nicht nur die Homöopathie eine Renaissance erlebt, sondern auch viele naturheilkundliche Verfahren. Darüber hinaus wird die konventionelle Medizin verstärkt kritisiert. Trotz aller unbestreitbaren Erfolge wirkt ihre Behandlung auf viele Menschen zu unpersönlich, zu technisiert und zu schematisiert. Die Contergan-Katastrophe und andere Nebenwirkungen von Medikamenten verringern zusätzlich das Vertrauen in diese Art der Medizin. Man sehnt sich nach einem anderen, nach einem tieferen Arzt-Patient-Verhältnis.

Darüber hinaus kommt noch ein weiterer Grund zum Tragen, der die Entwicklung der Homöopathie immer wieder entscheidend geprägt hat: der Einfluss charismatischer Persönlichkeiten. Der weltweite Boom ist insbesondere mit dem Namen Georgos Vithoulkas (*1932) verbunden, der für seine Arbeit 1996 den Alternativen Nobelpreis erhielt. Der Grieche Vithoulkas, ursprünglich Ingenieur, lehrt eine Homöopathie, in der die homöopathischen Grundregeln von Hahnemann und Kent durch eigene Prinzipien ergänzt werden. Seine Veröffentlichungen (vor allem Medizin der Zukunft und Die wissenschaftliche Homöopathie) sowie seine seit den frühen 1970er-Jahren international gehaltenen Kurse machen Vithoulkas rasch zu einem weltweit bekannten Lehrer. Besonders sein Unterricht mit Videoaufzeichnungen der Erst- und Folgeanamnesen ist neuartig und attraktiv.

In Indien und Brasilien gehört die Homöopathie inzwischen zum festen Bestandteil des Gesundheitswesens. Auch in Deutschland gewinnt die Homöopathie im akademischen Umfeld an Bedeutung. 1993 wird die Homöopathie in den Gegenstandskatalog der ärztlichen Prüfung aufgenommen, und an den meisten deutschen Universitäten finden Vorlesungen statt.

Homöopathie heute

Der historische Abriss endet in den 1990er-Jahren. Die Homöopathie ist so populär wie noch nie. Was seitdem geschehen ist, lässt sich nicht mehr ohne Weiteres überblicken. Die Homöopathie hat sich in so vielen Bereichen weiterentwickelt, dass es unmöglich geworden ist, auch nur einen Bruchteil aller Strömungen und Unterströmungen aufzulisten. Namen wie Jan Scholten, Rajan Sankaran oder Sanjay und Yogesh Seghal sind aus der Szene nicht mehr wegzudenken. Neuartig an diesen Strömungen ist, dass sie über Hahnemann hinausgehen möchten. Sie möchten seine Arbeit in seinem Sinne weiterentwickeln. Das gab es in dieser Form noch nie. Bisher versuchte man entweder, Hahnemanns späte Lehre in die Praxis umzusetzen (Klassische Homöopathie) oder aber die vermeintlichen Fehler dieser Lehre zu vermeiden (Naturwissenschaftlich-kritische Homöopathie). Nun aber geht man über Hahnemann hinaus, manchmal sogar so weit, dass nur noch wenig Ähnlichkeit mit der ursprünglichen Homöopathie besteht. Eines der ursprünglichen Prinzipien, die Arzneimittelprüfung an Gesunden, wird beispielsweise übergangen. Man versucht stattdessen, das richtige, das ähnlichste Arzneimittel anhand von Analogieschlüssen zu bestimmen, um auf diese Weise auch bisher nicht geprüfte Arzneimittel einsetzen zu können.

Es wundert daher nicht, dass es Gegenströmungen gibt, die eine Besinnung auf die homöopathischen Grundlagen fordern. In diesem Zusammenhang werden Werke längst verstorbener Homöopathen wiederentdeckt, darunter die Arbeiten von Bönninghausen, Boger oder Lippe. Und immer wieder wird auch eine Rückkehr zur originalen Homöopathie, zur Homöopathie Hahnemanns gefordert.

Einig sind sich alle Strömungen, so unterschiedlich sie auch sein mögen, in einem: Die Wirkung von Hochpotenzen wird nicht mehr angezweifelt. Das, was die Homöopathen mehr als 150 Jahre geteilt hat, ist kein Streitpunkt mehr.

Literatur (Auswahl)

  • Dinges M (Hrsg.): Homöopathie: Patienten, Heilkundige, Institutionen; von den Anfängen bis heute. Heidelberg: Haug; 1996
  • Dinges M (Hrsg.): Weltgeschichte der Homöopathie: Länder, Schulen, Heilkundige. München: Beck; 1996
  • Haehl R: Samuel Hahnemann. Sein Leben und Schaffen auf Grund neu aufgefundener Akten, Urkunden, Briefe, Krankenberichte und unter Benützung der gesamten in- und ausländischen Literatur. Unter Mitwirkung von Karl Schmidt-Buhl. Band I und II. Leipzig, 1922. Nachdruck Dreieich: T & W; 1988
  • Handley R: Eine homöopathische Liebesgeschichte. Das Leben von Samuel und Mélanie Hahnemann. 2. Aufl., München: Beck; 1995
  • Jütte R: Samuel Hahnemann. Begründer der Homöopathie. München: dtv; 2005
  • Schmidt JM: Taschenatlas Homöopathie in Wort und Bild. Grundlagen, Methodik, Geschichte. Heidelberg: Haug; 2001
  • Schmitz M (Hrsg.): Strömungen der Homöopathie. Essen: KVC; 2000
  • Tischner R: Das Werden der Homöopathie. Geschichte der Homöopathie vom Altertum bis zur neuesten Zeit. Neuauflage der Ausgabe von 1950. Mit einem Nachtrag von Prof. Dr. phil. Robert Jütte, gesetzt und redigiert von Dr. med. vet. Achim Schütte. Stuttgart: Sonntag; 2001
  • Wischner M: Kleine Geschichte der Homöopathie. Essen: KVC; 2004

Der Text ist eng angelehnt an das Kapitel „Geschichte der Homöopathie“ aus Matthias Wischner: QuickStart Homöopathie. Stuttgart: Hippokrates, 2009 (mit freundlicher Genehmigung des Verlages). Der Inhalt dieser Seite darf nur nach vorheriger Genehmigung durch den Hippokrates Verlag (Thieme Gruppe) kopiert werden.