Laut Hans-Georg Gadamer ist ein Gespräch bekanntlich dann ein Gespräch, wenn der andere Recht haben könnte [Gadamer 2000]. Was den Homöopathiediskurs angeht, ist es schon lange kein Gespräch mehr. Es wird nicht sachlich diskutiert, sondern in Kriegsmetaphorik aufeinander eingedroschen [Schmitt 2017].

Warum nur wird dieser Streit über ein Randphänomen der Medizin mit solcher Vehemenz ausgetragen? Warum vergeht kaum ein Tag, in dem die Homöopathie nicht in den Leitmedien als eindeutig unwissenschaftlich, längst widerlegt und darüber hinaus als gefährlich dargestellt wird – und zwar nicht nur von Kritikern, sondern auch von Journalistinnen und Journalisten?

Erklärungen bieten die Begriffe Ambiguitätsintoleranz und Vereindeutigung, Begriffe, die der Islamwissenschaftler Thomas Bauer in einem lesenswerten Essay verwendet [Bauer 2018].

Der Begriff Ambiguitätstoleranz wurde 1949 von der österreichisch-amerikanischen Psychoanalytikern Else Frenkel-Brunswik als Persönlichkeitseigenschaft in die Psychologie eingeführt. Unter Ambiguitätstoleranz versteht man die Fähigkeit, Phänomene der Mehrdeutigkeit, der Unentscheidbarkeit und Vagheit zu ertragen. Laut Wikipedia sind ambiguitätstolerante Personen „in der Lage, Ambiguitäten, also Widersprüchlichkeiten, kulturell bedingte Unterschiede oder mehrdeutige Informationen, die schwer verständlich oder sogar inakzeptabel erscheinen, wahrzunehmen, ohne darauf aggressiv zu reagieren oder diese einseitig negativ oder […] vorbehaltlos positiv zu bewerten“ [Wikipedia].

Thomas Bauer sieht in der Ambiguitätsintoleranz ein Kennzeichen vieler aktueller gesellschaftlicher Prozesse: „Meine These lautet nun, dass unsere Zeit eine Zeit geringer Ambiguitätstoleranz ist. In vielen Lebensbereichen – nicht nur in der Religion – erscheinen deshalb Angebote als attraktiv, die Erlösung von der unhintergehbaren Ambiguität der Welt versprechen. Diese gelten ihren Anhängern und Jüngern als besonders zeitgemäß und fortschrittlich und haben vielfach die Diskurshoheit in ihrem jeweiligen Feld erobert. Demgegenüber wird Vielfalt, Komplexität und Pluralität häufig nicht mehr als Bereicherung empfunden. Diese Entwicklung führt zu dem, was im Titel dieses Essays als Vereindeutigung der Welt bezeichnet wird: ein Weniger an Bedeutungen, an Ambiguität und an Vielfalt in allen Lebensbereichen.“ [Bauer 2018]

Die Parallelen zum Homöopathiediskurs liegen auf der Hand.

Vereindeutigung

Die Sichtweise auf die Homöopathie und die zugehörige Datenlage ist maßgeblich geprägt von einem Bestreben zur Vereindeutigung: Auf der einen Seite die eindeutig wissenschaftliche evidenzbasierte Medizin, die immer eindeutig hilfreich ist, auf der anderen Seite die eindeutig unwissenschaftliche Homöopathie, eindeutig nicht besser als Placeboeffekt und bisweilen sogar schädlich.

Das öffentliche Bild, das die Kritiker malen, ist in Schwarz und Weiß gezeichnet, sämtliche Grautöne fehlen. Und dabei weiß eigentlich jeder, der sich in der Medizin auskennt, dass die Grautöne in allen Bereichen überwiegen.

Denn auch die evidenzbasierte Medizin ist in vielen Bereichen keineswegs eindeutig bewiesen. Jede neue Leitlinie wird kritisch diskutiert, neue Medikamente und neue Verfahren sind in aller Regel umstritten, die Datenlage zu den meisten Problemfeldern ist noch uneinheitlich. Eindeutigkeit herrscht fast nirgends, Gewissheit fast ebenso selten. Gerade in der täglichen Praxis ist Medizin ein stetes Abwägen und Herantasten im Einzelfall. Und das, was heute richtig ist, kann morgen schon wieder falsch sein, bevor es übermorgen eine Renaissance erlebt.

Das alles ist kein Grund, die evidenzbasierte Medizin abzulehnen; Medizin und Wissenschaft sind im Fluss, und niemand möchte auf die vielen segensreichen Entwicklungen verzichten. Aber es ist ein Gebot der wissenschaftlichen Redlichkeit, diese Tatsachen in öffentlichen Diskussionen zu berücksichtigen.

Die Datenlage zur Homöopathie ist ebenfalls nicht so eindeutig, wie es immer wieder suggeriert wird. Man kann die Datenlage genauso gut auch folgendermaßen zusammenfassen: Wenn es einen arzneimittelspezifischen Effekt gibt, ist er klein – aber es ist auch nicht bewiesen, dass es keinen arzneimittelspezifischen Effekt gibt. Außerdem zeigt die Homöopathie in Outcome-Studien immer wieder gute Ergebnisse, woraus geschlussfolgert werden darf, dass – wenn es denn nur der Placeboeffekt sein sollte – dieser in der Homöopathie offensichtlich gut genutzt wird. Diese Lesart der Datenlage ist möglich, und man steht nicht automatisch außerhalb des wissenschaftlichen Diskurses, wenn man die Vielzahl der Untersuchungen auf diese Art und Weise wissenschaftlich interpretiert.

Bemerkenswert ist auch der Umgang mit Nachteilen und Gefahren von konventioneller Medizin und Homöopathie: Innerhalb der konventionellen Medizin werden die zum Teil erheblichen Gefahren und Risiken derselben selbstverständlich thematisiert (z.B. sagte der Generaldirektor der WHO, Dr. Tedros Adhanom Ghebreyesus: „No one should be harmed while receiving health care. And yet globally, at least 5 patients die every minute because of unsafe care.“ [WHO]) – wenn Kritiker jedoch gegen die Homöopathie argumentieren, werden diese Missstände regelmäßig ausgeblendet; gleichzeitig jedoch werden mögliche Gefahren der Homöopathie hervorgehoben, ohne dass es dazu überhaupt belastbare Studien gibt.

Ambiguitätsintoleranz

Eine Erklärung für die Schwarz-Weiß-Malerei der Kritiker liegt vermutlich in einem ausgeprägten Mangel an Ambiguitätstoleranz. Man weigert sich offensichtlich, Grautöne wahrzunehmen und zu akzeptieren, und zwar sowohl was die evidenzbasierte Medizin als auch was die Homöopathie angeht.

Dazu passt, dass Homöopathiekritiker auch in anderen Bereichen wenig Ambiguitätstoleranz zeigen. Der Streit um die Homöopathie ist nämlich auch ein Streit um Weltbilder. Die so genannten Skeptiker, organisiert in den Brights oder der GWUP, kämpfen beispielsweise nicht nur gegen Homöopathie und andere komplementärmedizinische oder alternative Verfahren, sondern auch gegen Religion, Mystizismus, Transzendenz etc. Viele ihrer Anhänger bekennen sich zum Neuen Atheismus [Wikipedia], sie betrachten Glauben und Religion als irrational, anti-wissenschaftlich und gefährlich. Es scheint, als seien diese Gruppierungen auf der Suche nach einer Art Erlösung von der unvermeidbaren Ambiguität dieser Welt. Alles wird vereindeutigt, es gibt nur noch ganz richtig oder ganz falsch; Vielfalt, Komplexität und Pluralität (Faktoren, die für viele komplementärmedizinische Bereiche konstituierend sind) werden vermieden.

Wahrheitsobsession, Geschichtsverneinung, Reinheitsstreben

Thomas Bauer weist in seinem Essay auch auf die Verbindungen zwischen Ambiguitätsintoleranz und Fundamentalismus hin:

„Wer Eindeutigkeit erstrebt, wird darauf beharren, dass es stets nur eine einzige Wahrheit geben kann und dass diese Wahrheit auch eindeutig erkennbar ist. Eine perspektivische und damit nicht-eindeutige Sichtweise auf die Welt wird abgelehnt. […] Der Komplementärbegriff zu »Wahrheit« ist nun der der Wahrscheinlichkeit. Ein klassischer islamischer Jurist beanspruchte nicht, in seinem Gutachten die Wahrheit, sondern nur eine mit guten Gründen fundierte wahrscheinlich richtige Lösung gefunden zu haben. Auch Parlamente demokratisch verfasster Staaten verkünden keine Wahrheit, sondern suchen lediglich die aller Wahrscheinlichkeit nach angemessenste Lösung.“ [Bauer 2018]

Medizin hat mit Politik und Jurisprudenz eine entscheidende Gemeinsamkeit, alle drei Fachgebiete sind praktische Wissenschaften [Wieland 2004]. Schließlich wird auch in der täglichen medizinischen Praxis stets nach der wahrscheinlich besten Lösung, die es aktuell für ein konkretes Individuum in einer konkreten Situation gibt, gesucht.

Bauer zeigt weiterhin, dass der Glaube an eine einzige Wahrheit zu Geschichtsverneinung führt: „Wenn es nur eine einzige Wahrheit gibt, dann muss diese auch überzeitlich gültig sein. Hat man zu bestimmten Zeiten bestimmte Dinge anders gesehen und anders interpretiert, können diese Sichtweisen und Interpretationen nur falsch sein, weil es anderenfalls ja mehrere Wahrheiten geben müsste.“ [Bauer 2018]

Dies führt nach Bauer zum dritten prägenden Wesenszug des Fundamentalismus, dem „der Reinheit, der sich vielfältig mit dem der Eindeutigkeit überschneidet. Nur dann, wenn etwas rein ist, kann es eindeutig sein.“ [Bauer 2018]

Bauer fasst zusammen: „Wahrheitsobsession, Geschichtsverneinung und Reinheitsstreben sind also drei Wesenszüge bzw. Grundbegriffe von Ambiguitätsintoleranz, die die Basis jedes Fundamentalismus bilden.“ [Bauer 2018]

Wahrheitsobsession (Homöopathie ist Unfug, nur die evidenzbasierte Medizin ist wahre Medizin) und Geschichtsverneinung (nur die derzeitige wissenschaftliche Medizin ist wirklich wissenschaftlich) sind Merkmale, die auch den Aussagen der Homöopathiekritiker oft zu eigen sind. Und was das Reinheitsstreben angeht, erwecken Kritiker und Gegner häufig den Eindruck, als würden sie Berührungspunkte zwischen Homöopathie und konventioneller Medizin als eine bedrohliche Kontamination erleben, weswegen sie die reine Medizin von einer solchen als unrein empfundenen Methode säubern möchten.

Es soll jedoch nicht verschwiegen werden, dass es auch innerhalb der Homöopathie fundamentalistische Strömungen gibt, die sich durch Wahrheitsobsession, Geschichtsverneinung und Reinheitsstreben auszeichnen, und die dazu beitragen, dass sich der Diskurs im Kreise dreht.

Homöopathie in den Leitmedien

Es mag wenig verwundern, dass Kritiker in solchen Schwarz-Weiß-Bildern verhaftet sind. Ambiguitätsintoleranz scheint Kräfte freizusetzen, die man im täglichen Kampf gegen Mehrdeutigkeiten und Vagheit gut gebrauchen kann.

Verwunderlich jedoch ist die Tatsache, dass das Schwarz-Weiß-Narrativ der Kritiker inzwischen auch in den Leitmedien fast vollständig übernommen wurde, obwohl es doch eine der Kernaufgaben des Journalismus ist, die unvermeidlichen Graustufen eines jeden Diskurses darzustellen. Selbst die seltenen journalistischen Kommentare, in denen die Homöopathie als harmlose aber ansonsten nicht weiter zu bekämpfende Therapie dargestellt wird, übernehmen (vermutlich unbedacht) das Schwarz-Weiß-Bild der Homöopathiegegner, indem auch sie behaupten, dass Homöopathie eben nicht mehr sei als eine Placebotherapie. Auf die Grautöne der Datenlage wird auch in diesen eigentlich wohlwollenden und um Ausgleich bemühten Kommentaren nicht näher eingegangen.

Die so genannten Skeptiker, medial vertreten durch nur wenige Personen, die immer wieder zitiert werden, haben damit die Diskurshoheit gewonnen. Es ist ihnen durch beschwörende Wiederholung von Schlagwörtern gelungen, die meisten Journalistinnen und Journalisten davon zu überzeugen, dass die Homöopathie nicht nur angezweifelt werden darf, sondern verneint und ablehnt werden muss.

Skepsis an der Homöopathie ist zwar durchaus berechtigt, denn es gibt tatsächlich eine Vielzahl an Implausibilitäten. Aus einer solchen Skepsis jedoch die totale Verneinung zu konstruieren, hat weniger mit Skeptizismus zu tun als mit einem Hang zur Radikalität.

Die Sichtweise auf die Homöopathie in den Leitmedien ist inzwischen kaum noch von der Sichtweise der Homöopathiekritiker zu unterscheiden. Dieser Umstand verblüfft von Jahr zu Jahr mehr. Und er hinterlässt das ungute Gefühl, dass über die Zukunft der Homöopathie nicht mehr Patientinnen und Patienten auf der einen und Ärztinnen und Ärzte auf der anderen Seite entscheiden, sondern Journalistinnen und Journalisten, die sich von der Schwarz-Weiß-Malerei fundamentalistischer Kritikergruppierungen haben blenden lassen.

Ausblick

In einem festgefahrenen Streit kommt es darauf an, dass sich einer der Beteiligten zuerst bewegt. Wer könnte das im Streit um die Homöopathie sein? Es spricht nichts dafür, dass sich die Kritiker und Gegner in naher Zukunft zu einer differenzierteren Sichtweise und moderateren Sprache werden durchringen können.

Schmitt weist nach, dass sich Homöopathiebefürworter in der Debatte um einen sachlichen Austausch bemühen, wohingegen sich die Gegner häufiger emotional und provokant äußern: „Das erweckt den Anschein, dass die Homöopathie, vor allem die ärztliche Homöopathie, sich vom Heilpraktiker-Image deutlich zu lösen versucht, und durch vermehrt rational wissenschaftliches Argumentieren auch sprachlich Anschluss an die akademische Medizin finden möchte. Diese hingegen zeigt sich nicht selten polemisch und emotional in ihren Aussagen. Eine strikte Trennung in sachlogische und emotionale Aussagen und Argumentationen lasst sich somit nicht fest machen. Inhaltlich bleiben die Homöopathiebefürworter an Emotionen und Erfahrungen gebunden, versuchen jedoch, die Wirksamkeit homöopathischer Präparate vermehrt wissenschaftlich und rational zu belegen. Die Homöopathiegegner berufen sich nach wie vor auf eine rationale Wissenschaft, jedoch tun sie dies auch provokant und emotional.“ [Schmitt 2017]

Angesichts des zweihundert Jahre alten Diskurses ist es ebenfalls unwahrscheinlich, dass sich die Homöopathiebefürworter und -anwender der Sichtweise von Kritikern und Gegnern anschließen. Die Argumente, die gegen die Homöopathie sprechen, sind für sie offensichtlich nicht so überzeugend, dass sie zwingend zu einer Verhaltensänderung führen.

Hinzu kommt, dass der Streit um die Homöopathie eine Art Stellvertreterkrieg zwischen verschiedenen Weltbildern ist, eine Tatsache, die eine irgendwie geartete Auflösung oder Beilegung fast unmöglich erscheinen lässt.

Homöopathiegegner suchen nun nach radikalen Lösungen, üben Druck auf Politiker und Funktionäre aus und fordern, dass die Homöopathie vom Gesetzgeber verboten werden soll. Aber was wäre damit gewonnen? Die Geschichte der Homöopathie im deutschen Kaiserreich zeigt, dass sich die Ausübung dieser Methode dann in die Hände von Laien verlagern würde (im deutschen Kaiserreich war die Homöopathie zwar nicht verboten, aber es gab so wenige ärztlich-homöopathische Behandler, dass die Homöopathie hauptsächlich von Laien, häufig organisiert in Vereinen, ausgeübt wurde. [Wischner 2018]). Homöopathie würde zu einer Art Untergrund-Medizin mutieren, und ob das wirklich wünschenswert ist, muss bezweifelt werden.

Da sich die beiden unmittelbaren Kontrahenten also vermutlich nicht aufeinander zubewegen werden, darf man nur hoffen, dass sich wenigstens mehr Journalistinnen und Journalisten auf ihre Kernkompetenz besinnen und zukünftig häufiger Grautöne in ihre Berichte, Reportagen und Kommentare einfließen lassen.

Eine solchermaßen differenzierte Berichterstattung trüge ihren Teil dazu bei, dass die seit jeher pluralistisch angelegte Medizin auch weiterhin in sinnvollem Umfang pluralistisch bleibt. Praktische Medizin kann ja gar nicht anders als mehrdeutig und vielfältig gedacht werden.

Literatur

Bauer T: Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt. Ditzingen: Reclam, 10. Aufl. 2018

Gadamer H-G: „Ein Gespräch setzt voraus, dass der andere Recht haben könnte.“ — Hans-Georg Gadamer, im Interview mit Thomas Sturm. DER SPIEGEL 8/2000 21.02.2000, S. 305

Schmitt E: “Wissenschaftlich wirkungslos” vs. “Wer heilt, hat recht”. Eine diskurslinguistische Untersuchung zum Homöopathiediskurs. Magisterarbeit (Magisterstudiengang Germanistik, Soziologie und Wirtschaftswissenschaften), Institut für Sprach- und Literaturwissenschaft, TU Darmstadt, 2017 https://www.linglit.tu-darmstadt.de/media/linglit/mitarbeitende/janich/abschlussarbeiten/Schmitt_eva_Homoeopathiediskurs_2017.pdf

Wieland W: Diagnose: Überlegungen zur Medizintheorie. Berlin, New York: de Gruyter; 1975. Nachdruck = Warendorf: Hoof; 2004

Wischner M: Kleine Geschichte der Homöopathie, Essen: KVC, 2 Aufl., 2018